2012/13 Marc Pendzich schreibt diverse Songs samt Text – was bis dahin eher die Ausnahme war -, darunter „Wenn ich die Zeit los bin“, „Für Dich“ und „Zwei Sterne“.
2012-15 Die Autorin und Sängerin Tanja Jost und Marc Pendzich lernen sich kennen und schreiben gemeinsam etwa 16 Songs. Davon befinden sich sechs auf diesem Album, darunter „Meine Lieder“, „Zwei Tage“ und der Titeltrack, „Von neuen Früchten“.
2015/16 Arrangements
2017-19 Aufnahmen mit Tanja Jost, Hannes Jost (Gitarren), Babypause, andere Projekte, darunter das Handbuch Klimakrise.
2021 final Mix
2021 planet-friendly-Mastering durch Flo Siller, Hamburg
14. April 2023 Veröffentlichung des Albums Von neuen Früchten und Premiere des von Christian Kalbach produzierten Videos zu „Zwei Sterne“
Von neuen Früchten. Ein Werkstattbericht. [pdf]
Vorgeschichte. Vorhang zu.
Nein, ich wollte nicht auf die Bühne. Ich sah mich als Komponist. „Ich singe nicht. Ich lasse singen.“ lautete ein typisches Bonmot meiner jüngeren Jahre. Die Anfangserfolge gaben mir gewissermaßen recht. Mein erstes größeres Werk Borchert – Gedichtelieder um Hamburg wurde 1999 von einem sechzehnköpfigen Orchester plus Sängerin in Esslingen am Neckar im Rahmen des Kulturfestivals grund ..sätze anlässlich der Feiern zu ‚50 Jahren Grundgesetz‘ uraufgeführt. Auf drei selbstproduzierten CDs sangen Heidrun Marin und Conny Petzold meine Musikwerke zwischen 1997 und 2002 für mich ein. Auf diese Weise konnte ich in meiner Lieblingsrolle als Komponist bzw. Produzent im Hintergrund bleiben. Das gemeinsam mit Anne Hentschel verfasste musikverwobene Theaterstück Tita und Leo – Ferien zwischen den Jahrhunderten, welches auf dem Jugendroman von Angelika Waldis basiert, wurde 2008 in der damaligen Theaterfabrik Hamburg uraufgeführt. Ich fand Verlage, bekam Zuspruch, erhielt Lizenzen, stieß auf Interesse von Mitstreiter:innen… Im gleichen Zeitraum gründete ich mit Susanne Pollmeier (Gesang) und Naomi Imai (Klavier) ein musikalisches Duo (das sich später Nachtgesang nennen sollte) und das sich der ‚Literaturmusik‘ verschrieb. Mit Pollmeier/Imai bzw. Nachtgesang brachen wir das Orchesterwerk Borchert herunter auf Gesang und Klavier. Zusammen mit meinen May-Ayim-Vertonungen spielten wir Borchert auf einer Reihe von live-Konzerten in Hamburg und Umgebung. Wir produzierten insgesamt drei CD-Alben mit diesen Klavier-basierten Versionen meiner Werke. Das sieht auf dem Papier prima aus, doch insgesamt ging es nicht recht voran mit Pollmeier/Imai. Die Prioritätensetzung meiner Mitmusikerinnen lag daher logischerweise auf anderen Projekten. Terminfindungen gestalteten sich äußerst schwierig. Mails versandeten. Hinterhertelefonieren und niemanden erreichen waren mein ‚täglich Brot‘. Als Naomi 2011 nach Berlin ging, war das Ende von Nachtgesang besiegelt. Und ich hatte nun keine Musikgruppe mehr, die die bereits veröffentlichten Nachtgesang-Alben hätte nach Außen tragen können. Die mit hohem Aufwand produzierten Alben waren damit aus Marketing-Sicht sozusagen ‚tot‘.
Zusammengefasst und rückblickend betrachtet war bei Pollmeier/Imai der logistische Aufwand in Relation zum öffentlichkeitswirksamen Ertrag unvertretbar hoch. Susanne und Naomi auf der Bühne zu sehen – namentlich in unserem ‚Wohnzimmer‘, dem Monsuntheater in Hamburg Ottensen – war wunderbar und ergreifend für mich. Sie waren ein tolles Bühnenpaar, und Susanne verstand es mit ihrem Charisma, das Publikum in meine Musikwelt und in die Lebensgeschichten von Wolfgang Borchert und May Ayim hineinzuziehen. Aber jetzt, da das Projekt zu Ende gegangen war, sollte ich das Ganze noch einmal mit anderen Musiker:innen hochziehen, die mich auf der Bühne ‚vertreten‘? In mir reifte, langsam aber sicher, die für mich nicht einfache Erkenntnis, dass ich mich nicht länger Backstage als Komponist/Produzent/Manager verstecken kann, sondern künftig tatsächlich selbst auftreten ‚muss‘: eine Person weniger im Gruppenverbund, geringere Kosten (in einem ökonomisch sehr schwierigen ökonomischen Umfeld namens ‚Kulturszene‘) sowie deutlich weniger Logistik und Aufwand bei ungleich höherem Eigeninteresse und mehr Authentizität.
Um 2010 stand folglich ein grundlegender Neuanfang an. Ich hatte mich – in enger Absprache mit meiner Frau – endgültig gegen einen bürgerlichen ‚Brotjob‘ und für ein der Kunst gewidmetes Leben entschieden. Kunst kommt m. E. nicht von können, wie es oft heißt, sondern von ‚müssen‘. Wer nicht ‚muss‘, der sollte es m. E. lieber sein lassen1. Ich gehöre jedoch zu denen, die tatsächlich nicht anders können. Dieser Prozess ging nicht ohne Schmerzen ab. Ein tiefes emotionales Tal samt Depression und Burnout war zu durchschreiten.
Im neu gebauten Studio entstanden um 2012 bis 2014 die Bewältigungswerke ZERO – Back2Life und Permuted Identity sowie erstmals in größerem Umfang auch Songs mit eigenen, d. h. von mir selbst verfassten Songtexten. Bis dahin hatte ich mich stets auf den ‚Club der toten Dichter‘ und Dichterinnen verlassen, auf Textwerke von Wolfgang Borchert, May Ayim und Paul Boldt. Zu den in diesem Zeitraum entstandenen eigenen Songtexten gehören auch die auf Von neuen Früchten zu hörenden Stücke „Wenn ich die Zeit los bin“, „Für Dich“, „Zwei Sterne“, „Ein Wiederseh(n)en“ und „Alles auf null“.
https://binoculers.bandcamp.com/album/sun-sounds (Abrufdatum 14.04.2023)
https://www.youtube.com/@Binoculersmusic (Abrufdatum 14.04.2023)
2014 nahm ich allen Mut zusammen und suchte mir eine Gesangslehrerin. Per Website stieß ich auf eine gesangsunterrichtende Singer/Songwriterin, deren Stimme mich sofort ergriff. Sie sang so, wie ich singen wollen würde, wäre ich eine Frau. Ich hatte unmittelbar das Gefühl, dass das passen könnte, rief an – und… Volltreffer beim ersten Versuch. Nadja Gädicke von der Gruppe Binoculers arbeitete mit mir gemeinsam an meiner Stimme, an meinem ‚Singen-ist-uncool‘-Glaubenssatz. Und von der ersten Stunde an fand der Unterricht auf Basis meiner eigenen Songs statt, die ich als Playback mitbrachte – darunter auch die Songs von Von neuen Früchten.
Im Herbst des gleichen Jahres schleppte mich eine gute Freundin gegen meinen emotionalen Widerstand mit in ihren Chor.
Seinerzeit, auf dem Gymnasium, galt der Chor als das Letzte – also als das Allerletzte, wo man als cooler Pink Floyd-Fan hätte sein wollen. Unser Musiklehrer schlich regelmäßig – stets auf der Jagd nach neuen Chormitgliedern – durch die Pausenhalle und sprach sämtliche Schüler:innen an, denen nicht rechtzeitig die Flucht gelang. Ein Freund und ich ‚deckten‘ uns jahrelang gegenseitig mit dem Alibi, wir hätten am Probentag bedauerlicherweise eine andere regelmäßige Verpflichtung. Eines Tages catchte mich der Lehrer und ließ mich freudestrahlend wissen, der Probentag sei nunmehr ein anderer… Chor – das war doch etwas spießiges, wohnzimmerschrankwandartiges, hochgradig langweiliges mit Hang zu deutschen Volksliedern?
Nun, dieser Chor ‚ohne Namen‘ sollte nach Aussage besagter Freundin anders und ‚unspießig‘ sein. Das Liedrepertoire bestand (und besteht) aus Traditionals aus aller Welt. Das fand ich interessant, denn als Musikwissenschaftler habe ich umfangreiche Repertoirekenntnisse. Hier bestand für mich die Chance, endlich mal wieder ganz viele noch nie gehörte Lieder kennenzulernen. Und eine Vielzahl von Liedern zu singen, deren Texte ich weder verstand geschweige denn vernünftig aussprechen konnte – das barg ein anarchistisches Moment in sich, das ich spannend fand. Ich überwand also meine Scheu auf fremde Menschen zuzugehen und begleitete die Freundin mit einem Wat mut dat mut-Gefühl zum Chor.
Mariam Kiria leitete (und leitet) diesen namenlosen, kleinen Chor von vielleicht zehn, zwölf Menschen aller Altersstufen und mit höchst unterschiedlichen Biografien. Wohnzimmerschrankwände waren definitiv nirgends zu sehen. Mariam war (und ist) ein Freigeist, mit sympathischen, wunderbaren, leicht chaotischen Zügen. Mit viel emotionaler Wärme, Charme und Witz brachte (und bringt) sie uns die jeweils neuen ‚Lieder aus aller Welt‘ Gesangsstimme für Gesangsstimme mit und ohne Noten bei. Nicht ein Lied davon kannte ich. Zudem brachte uns die gebürtige Georgierin Mariam ‚ihre‘ Musik mit. Als Bass singt Mann bei georgischen Liedern (aus mitteleuropäischer Sicht) ungewöhnlich hoch, was ich als besonders tiefer Bass witzig und herausfordernd fand. Und man singt die Bassstimme i. d. R. wie ein Staubsauger oder auch wie ein Dudelsack, nämlich in idealerweise langen, nicht abgesetzten bordunartigen rauen Tönen. In meinen frühen Zwanzigern habe ich etwa fünf Jahre Oboe gespielt – Bordun kann ich also. Ich denke, man hört es bereits aus diesen Worten heraus: Ich blieb.
Auf dem Selma-[Merbaum-]Album wagte ich mich dann 2016 zum ersten Mal ans Mikrofon – und teilte mir den Gesang mit Danny Merz. 2018 folgte mit Danny eine Neuaufnahme des Werks nachtgesang mit den Texten von May Ayim in gleicher Gesangskonstellation unter meinem eigenen Namen. 2020 veröffentlichte ich das englischsprachige Album 1862, auf dem ich sämtliche Vocals zu den Texten von Emily Dickinson einsang. 2022 folgte eine von mir im Alleingang eingesungene neue Aufnahme meines zweiten größeren Werkes namens In der Welt über Texte des expressionistischen Dichters Paul Boldt (>> s. a. … other works).
Hauptgeschichte. Vorhang auf.
Gemeinsames Songwriting & die Entstehung von Von neuen Früchten
Wo findet ein Komponist gewöhnlich seine zukünftige Songwriting-Partnerin?
Richtig.
Beim Volleyball.
Im Herbst 2012 hatten wir dort eine neue Mitspielerin: Tanja fiel mir sofort auf, weil sie ‚Ecken und Kanten‘ hat, witzig ist, mal ‚einen raushaut‘ und dabei klug und sensibel sowie liebevoll dem Leben und den Mitmenschen zugewandt ist. Über einen spontan mitgebrachten Cappuccino und beim ‚Après-Volleyball‘ lernten wir voneinander, wie wir ticken und was wir so machen. Im Zuge eines berührenden Vertrauensvorschusses von Tanja bot sie mir bald an, ihre Gedichte zwecks möglicher Vertonung anzusehen. Ich fühlte mich gebauchpinselt – und hatte gleichzeitig gehörigen Respekt davor. Denn mir graute schon, noch bevor ich auch nur eine Zeile davon gelesen hatte, vor einer Absage an Tanja, weil ich bislang nur äußerst selten Inspiration durch zugesandte Texte gefunden hatte.
Zunächst ließ ich die Texte bewusst liegen, um in aller Ruhe auf den richtigen Moment zu warten. Denn wenn ich mich uninspiriert ans Klavier setze, können es die besten Texte der Welt sein, es würde nichts passieren – und möglicherweise ist die Chance dann vertan.
Der richtige Moment am Klavier kam – und der Rest ist Geschichte. Insgesamt haben Tanja und ich in den nächsten zwei Jahren etwa 16 gemeinsame Songs kreiert. Es fiel mir zu meiner eigenen Überraschung sehr leicht, Musik zu Tanjas Texten zu komponieren. Wow. Tanja, ich freue mich schon sehr auf den Tag, an dem wir anfangen, weitere Songs zu schreiben. Einstweilen haben wir so viele, dass wir/ich einen regelrechten Veröffentlichungsstau habe(n).
In den Jahren 2015/16 arbeitete ich vorrangig an zwei Alben: 1862 mit den englischsprachigen Songs über Texte von Emily Dickinson und an einem Album, dass zu etwa gleichen Teilen Songs mit Texten von Tanja und von mir enthalten sollte: Von neuen Früchten. Beide Alben waren ästhetisch gegensätzlich angelegt: Bei Emily Dickinson war es mir wichtig, eine opulente Traumklangschaft zu schaffen, bei der ich bewusst grenzenlos alles hineingeben wollte. Bei Von neuen Früchten ging es mir vor allem darum, auf Direktheit und Durchhörbarkeit zu achten und erstmals vermehrt akustische Gitarren einzusetzen, um den Songcharakter zu betonen. Beide Alben gleichzeitig zu produzieren, erschien mir sinnvoll und spannend, um die Unterschiede – den ästhetischen Kontrapunkt – umso deutlicher herausarbeiten zu können. Der Mut, mit dem ich 1862 schuf, übertrug sich letztlich auch auf Von neuen Früchten: Der Mittelteil von „Meine Lieder“ und der Schlussteil von „Affaire de Lune“ weisen eine aggressiv-dramatische Dynamik auf, die ich wohl ohne 1862 so nicht gewagt hätte.
Auch meine Gesangparts für 1862 und Von neuen Früchten nahm ich parallel auf. Es war fantastisch, zwischen den gesanglichen Extremen des englischsprachigen 1862-Albums und den liedermacherartigen, klaren, einfachen Vocals von Von neuen Früchten hin und her zu switchen.
Tanjas Texte sind aus einer weiblichen Perspektive verfasst. Es schien daher sinnvoll, diese i. d. R. auch von einer Frau singen zu lassen. Seitdem mein 13-jähriges Ich 1984/85 Mike Oldfields Album Discovery monatelang verschlungen hatte, auf dem sich Maggie Reilly und Barry Palmer den Gesang zu etwa 50:50 teilen, fand ich, dass dies eine einfache Möglichkeit ist, auf Musikalben für Abwechslung zu sorgen (vgl. Selma, Nachtgesang). Letztlich entschieden wir, dass die Songwriterin Tanja auch eine Singer/Songwriterin sein sollte: Wer außer Tanja könnte beispielsweise in „Wandel der Zeit“ und in „Affaire de Lune“ die erforderliche Authentizität einbringen? Zudem ist bei den Duetten des Albums ist zu hören, dass unsere Stimmen sehr gut zusammenpassen.
Unterbrochen von einer Babypause kam Tanja ab 2016 über viele Wochen hinweg regelmäßig zu mir ins Studio, um zu proben, auszuprobieren, mit dem Mikrophon spielen zu lernen und schließlich 2018 die finalen Vocals für die Songs aufzunehmen. Ins Studio folgte ihr dann ihr Mann, Hannes Jost, der ein toller Gitarrist ist, welcher im Herbst 2018 zu einigen Songs eine Reihe von meist akustischen Gitarrenparts beitrug, die – wie ich finde – deutlich zur Lebendigkeit des Albums beitragen.
Musik ohne Menschheitszivilisation macht keinen Sinn.
Parallel zu diesen Arbeiten hatte ich mich tief in das Thema ‚Überlebenskrise der Menschheit‘ samt Klimakrise, sechstem Massenaussterben und gesamtgesellschaftlicher Transformation eingearbeitet, sodass mein Studio manchmal monatelang brach lag. Was ich mir früher nie hätte vorstellen können, ist seit spätestens 2018 eingetreten: Ausschließlich ein Leben für die Musik zu leben reichte mir nicht mehr. Ich denke, ich könnte mein Leben ‚nur‘ bzw. ausschließlich mit Musik verbringen, wenn sich die Welt da draußen grundsätzlich weiterdrehen würde. Aber da dies nicht mehr selbstverständlich ist – ein ‚Weiter so‘ führt ins Aus –, mochte ich nicht komponierend daneben stehen und passiv beim globalen Zivilisationsverlust zuschauen. Da hätte ich mich ja quasi wie ein Musiker des Orchesters auf der Titanic verhalten… Im Ernst: Musik wird gemacht, um gehört zu werden – was nach einem Zivilisationsabsturz nicht mehr in der althergebrachten Form der Fall sein würde.
Nein, niemand kann als Individuum die Welt retten – doch möchte ich wenigstens meinen Beitrag leisten, auf dass sich die Dinge in die richtige Richtung entwickeln:
„You’re never too small to make a difference.“
Greta Thunberg, schwedische Klimaaktivistin, bei der Klimakonferenz in Kattowice, Dezember 2018.
Ich denke, jeder Mensch hat ein Talent. Entfaltet er dies, kann er ein zufriedenes Leben führen. Er soll das Talent außerdem – innerhalb seiner Möglichkeiten und soweit es die physische/psychische Kraft erlaubt – auch in die Gemeinschaft bzw. Gesellschaft einbringen. Was ich gut kann: mich tief in Themen einarbeiten, wissenschaftliche Quellenarbeit betreiben, Zusammenhänge herstellen, die nicht alle sehen und: schreiben. Also machte ich mich daran, die Klimakrise und das Massenaussterben aus allen möglichen Perspektiven zu erörtern und diese Blickwinkel zusammenzubringen: An die Vollendung des Webportals LebeLieberLangsam.de schloss sich das Ende 2020 veröffentlichte 700-seitige Handbuch Klimakrise an – sowie drei Jahre umfangreicher Arbeit für den Zukunftsrat Hamburg.
E-Bass, eigene Gruppe, Corona
Seit 2017 lerne ich E-Bass, denn mit Von neuen Früchten wollte ich nun umsetzen, was ich seit dem Abgesang der Gruppe Pollmeier/Imai/Nachtgesang als erforderlich ansah: Ich wollte/musste/konnte aus dem Backstagebereich nach vorne, auf die Bühne: als singender E-Bassist. Ich bin jetzt, bei der Niederschrift dieses Werkstattberichts im März 2023, auf der Suche nach einer Pianistin, die auch singen mag. Mit ihr wäre die Chance gegeben, durch norddeutsche Lande ziehen und auf kleinen (Theater-)Bühnen – und überall dort, wo ein ‚echtes‘ Klavier oder ein Flügel steht – einen Querschnitt meines mittlerweile umfangreichen Repertoires live darbieten. Pianistin Klavier und Gesang, Marc Gesang und Bass, das Ganze ökologisch-zukunftsfähig gedacht mit geringstmöglichem Equipment durchgezogen, sodass wir mit dem Zug bzw. dem ÖPNV zu den Auftritten fahren können.
Als die Covid-19-Pandemie hereinbrach war klar, dass das Von neuen Früchten-Album, das der Ausgangspunkt für erste live-Auftritte sein sollte, auf die Nach-Corona-Zeit geschoben würde. Es bot sich in den Corona-Jahren an, mit Permuted Identity und In Der Welt zwei längst fertig produzierte Alben zu veröffentlichen, die ohnehin weniger für die Live-Bühne gedacht waren als Von neuen Früchten.
Jetzt, Anfang 2023, ist Corona nicht länger dominierend, sodass nun tatsächlich die Zeit gekommen ist, Von neuen Früchten zu veröffentlichen.
Von neuen Früchten: Die Songtexte
Ein besonders wichtiger Song des Albums Von neuen Früchten ist „Wenn ich die Zeit los bin“. Der Song verkörpert mein Lebensgefühl des LebeLieberLangsam-Lebens und ist sozusagen der ‚Song zum Webportal‘ LebeLieberLangsam.de.
So ist das bei mir: In Mußezeiten geht es mir gut, ich schaue nicht auf die Uhr und schaffe trotzdem eine Menge:
Wenn ich die Zeit los bin,
Bin ich zeitlos und bin:
Glücklich.
Wenn ich jedoch mein Leben zu sehr durchtakte, gerate ich in Stress und funktioniere nur noch – ich komme mir selbst abhanden:
Wenn ich mich selbst verlier‘,
Mich in der Zeit verlier‘,
Werd‘ ich: unglücklich.
Und dann fängt die Suche nach mir an,
Damit ich wieder bei mir sein kann.
In diesen Wellen läuft mein Leben ab – wobei die Berge und Täler in den letzten Jahren weniger hoch und tief waren.
Weiter im Text:
Als einer von sieben Milliarden
Stapfe ich hier durch den Schnee
Ich lebe, ich lebe, ich lebe!
Wie ich hier so geh‘.
Schnee ist für mich Lebensgefühl pur – bei der ersten Flocke lasse ich den Stift fallen und gehe raus. (Und das ist im Jahre 2023 auch notwendig, da in Hamburg Schnee mittlerweile eher minutenweise denn stundenweise fällt.) Schnee erdet mich, Schnee rückt die Perspektiven zurecht, im Schnee bin ich ganz bei mir.
Fällt Schnee, bin ich wieder der ausgelassene siebenjährige Junge, der im Schneewinter 1978/79 aufgrund eines perfekt getimten Heizungsschadens in der Grundschule drei wunderbare Wochen schulfrei hatte, eine Schneehöhle nach der anderen baute – und der nur nach Hause kam, um den einen klitschnassen Schneeanzug gegen den zweiten, der gerade auf der Heizung getrocknet war, auszutauschen.
Daher geht es mir so: Wenn Menschen über Schnee schimpfen, weil sie dadurch Probleme mit ihrer Blechkarre bekommen, fühlt sich das für mich extrem naturentfremdet an.
Als Symbol für die Verbundenheit mit dem Leben und meinen Mitmenschen dient die erste Songzeile mit dem Verweis, einer von sieben Milliarden Erdbewohner:innen zu sein. Ich bin aufs Ganze gesehen unbedeutend und doch so viel. Ein Mensch unter Milliarden Menschen, deren wunderbare Oase des Lebens namens Erde von rund 70 Trilliarden anderen Sonnen umgeben ist. Diese Demut führt mich zur Essenz des Lebens.
Die zweite Strophe unterstreicht dieses Geerdet-sein:
Im dichten Schneegestöber
Sehe ich nichts und finde mich
Enthoben entfremdendem Hightech-Dreck
Bin ich eins mit mir, bin ich ich.
Technik ist eine gute Sache. Wo wären wir ohne Kühlschränke und Waschmaschinen? Aber wenn Gadgets, Apps und Smartphones unser Leben beherrschen, sind wir m. E. entfremdet und vergessen uns. Daher steht hier im Song diese pointierte ‚Hightech-Dreck‘-Aussage, getroffen von jemandem, der sich just in diesem Augenblick gerade zutiefst mit der Natur verbunden fühlt und mit dem Ist ja so praktisch-Schnickschnack nichts anfangen kann.
Wichtig ist zu verstehen: Laut den Vereinten Nationen (UN) wird sich die Weltbevölkerung – sofern Katastrophen nicht jede Berechnung sinnlos machen – im Jahr 2100 bei zehn bis elf Milliarden Menschen einpendeln – und dann wird die Zahl stabil bleiben. Elf Milliarden Menschen könnten bereits jetzt gut und gesund ernährt werden. Die Lebensmittel sind da. Es gibt vielmehr ein eklatantes Verteilungs- und Politikproblem. – vgl. Handbuch Klimakrise: 11 Milliarden unter bevoelkerung.handbuch-klimakrise.de.
Als ich „Wenn ich die Zeit los bin“ im Jahr 2012 schrieb, hatte die Anzahl der gleichzeitig auf dem Planeten lebenden Menschen gerade die Sieben-Milliarden-Marke überschritten. Zum Zeitpunkt der Gesangsaufnahmen war schon die Schwelle von acht Milliarden absehbar. Im Jahre 2023 beträgt die Anzahl der gleichzeitig lebenden Menschen auf diesem Planeten etwa 8,1 Milliarden Menschen. Sollte ich nun den Songtext ändern? Es schien mir geradezu politisch, es bei „sieben Milliarden“ zu belassen – und diese für viele Hörer:innen offensichtlich veraltete Zahl beispielsweise auf der Bühne als Gesprächsanlass zu nutzen. Was könnte besser deutlich machen, wie schnell zurzeit noch die Zahl der täglich auf diesem Planeten zu versorgenden Menschen zunimmt?
Drei Songtexte auf dem Album habe ich einem ganz bestimmten Menschen in meinem Leben gewidmet: „Aber wo wär‘ ich ohne Dich?“
Zum nostalgischen „Zwei Sterne“ ist kurz hervorzuheben, dass die finale Zeile „Und irgendwann sind wir ein Gespann“ nichts anderes als ein 80er-Jahre „Miteinandergehen“ meint: Mit der ersten Umarmung und den ersten Küssen ist just ein „Pärchen“ entstanden.
„Alles auf Null“ ist ein Song, der thematisch den Aspekt „Hightech-Dreck“ aus „Wenn ich die Zeit los bin“ aufgreift und vertieft. Der Song stammt ebenfalls von 2012/13. Ich habe Glück, dass jetzt, im Jahre 2023, zur Zeit der Veröffentlichung alle im Songtext genannten ‚Apps‘ noch relevant und allgemein bekannt sind.
Wer sich in diesem Song über die Zeile „Es tobt kein Hamster in meinem Kopf da“ wundert, tut das zu Recht. Obgleich das Bild im Zusammenhang des Songs durchaus stimmig ist – man denke an ein Hamsterrad – fällt die Zeile ein bisschen raus. Tatsächlich handelt es sich um eine Persiflage auf die Verszeile „Es tobt der Hass da vor meinem Fenster“ des Ich+Ich-Songs „Pflaster“: Beim Mix ist den Produzent:innen offensichtlich durchgerutscht, dass die tiefe Bassdrum genau in dem Moment erklingt, in dem Adel Tawil „Hass da“ singt. Die Bassdrum scheint die Konsonanten zu übertönen und/oder in ein „m“ umzuformen. Auf jeden Fall meint man eher das Wort „Hamster“ zu hören.
Ähnliches gilt für den Song „Für Dich“. Hier griff ich passend zum Text fürs Intro und Outro auf eine übersprudelnd-quirlige Melodie zurück, die ich mit etwa 17, 18 Jahren schrieb – und die mir wohl heute mit all der Lebenserfahrung so nicht mehr einfallen würde.
Der erste Song des Albums „Meine Lieder“ verkörpert das Programm des Albums. Tanjas Text entspricht unser beider Lebensgefühl. Wir drücken uns durch unsere Kunst aus: Unsere Lieder „lassen ahnen, was leise in uns ruht.“ In unseren Liedern steckt unser ganzes Gefühl, unsere Wut, unsere Liebe und unsere Hoffnung. Wir leben in und mit unseren Songs unsere Träume. Tanja vermag das in Worte zu fassen. Und ich darf es vertonen. Gebauchpinselt. Freudig. Im Flow.
Der Klavierpart des songtextlosen Refrains bei „Alles auf Null“ stammt übrigens aus meinem ‚Jugendmusikarchiv‘. Diesen Part schrieb ich mit ca. 19 Jahren – und etwa zwanzig Jahre später entstand dann erst der ‚Song zum Part‘ samt der markanten „aah“-Chorlinie. Ich mag es, wenn aus uralten musikalischen Gedanken, mit denen ich seinerzeit nicht weiterkam, etwas Anderes, Neues wird. Da mischen sich gewissermaßen kompositorische Entwicklungsebenen.
An dieser Stelle übergebe ich für einige Absätze an Tanja:
„Meine Lieder“ – ursprünglich „Meine Gedichte“ – habe ich im Alter von 17 Jahren verfasst. Obwohl seitdem mehr als doppelt so viele Jahre vergangen sind, erinnere ich mich noch sehr genau an diesen Tag und an das Gefühl, unbedingt ein weiteres neues Gedicht schreiben zu wollen. Doch meine sonstige Inspirationsquelle fehlte mir diesmal, eine Verliebtheit oder der Herzschmerz, dazu. Und so blätterte ich in meinen alten Gedichten – und da war die Muse. Ein, zwei Erinnerungen an Streitereien, an die dichterischen Talente meines Vaters und an all das Schöne, was mir das Gedichteschreiben gibt. Da war Es, dieses eine Gedicht, nicht für Jemanden, sondern nur für mich.
Ganz anders als „Zwei Tage“. Dieser Mensch war jemand, der meine Welt innerhalb von, man mag es ahnen, zwei Tagen auf den Kopf stellte. Er nahm mir meine wunderbare, jugendliche Naivität mit knapp 19. Ich wollte ihn mit diesem Gedicht beeindrucken – er hielt es für seine Leistung meine Intelligenz wach gerüttelt zu haben.
Ja, „Wandel der Zeit“, das ist wohl das einzige Gedicht aus dieser Altersspanne, das ich nur für mich schrieb. Im Blick meine stetige Verwandlung, der ich oft kaum in Echtzeit hinterher kam und die mich überraschte, wann immer ich meine Vorstellungen überdachte oder neue Wege einschlug. Mir selbst treu zu sein lautete die Herausforderung. Letztlich wurde ich – so fühlte es sich für mich an – durch fundamentales Vertrauen an die Hand genommen.
An „Der Trauer leid“ erinnere ich mich ungern. Während ich es schrieb, war mir nicht bewusst, dass mir der Inhalt dieses Textes erst Jahre später klar werden würde. 20 war ich, mit Liebeskummer, verzweifelt daran gewesen, sein Interesse an meinem Leiden zu wecken. Eine Hassliebe, in der ich mich für ganze zwei Jahre verlor.
Diese zwei Jahre prägten auch das Gedicht „Affaire de Lune“, für dessen Titel ich Marc zu danken habe. Wunderbar! Denn es war wirklich Nacht, ich sah die Reflexion meines damaligen Freundes in der Fensterscheibe und meine Muse führte den Stift übers Papier – er war äußert geschmeichelt.
Ich im Nachhinein froh, dass wir (im Unterschied zum Songtext) die Ketten letztlich nicht gemeinsam ins Feuer warfen. Als ich das erste Mal die Musik zu diesem Gedicht hörte, war ich erstaunt, wie viel tiefes Verständnis Du, Marc, für meinen Text fandest. Marc entdeckte Facetten daran – z. B. meine Angegriffenheit –, die ich bis dahin selbst nicht wahr haben wollte. Diese fünf Werke sind in einer Zeit entstanden, in der ich herausgefunden habe, was ich wollte, jedoch noch nicht wusste, wo ich es finden würde: Die Suche nach der einen Liebe führte mich durch mehrere Städte und Beziehungen, die mich reifen ließen. So geht es bestimmt vielen von uns und so freue ich mich, wenn Du, liebe:r Lesende:r/Hörende:r, Dich in mir wieder entdecken kannst.
>> Planet friendly Mastering by Flo Siller siehe https://flosillermastering.com/ (Abrufdatum 16.04.2023)
Schließlich folgte während des Corona-Rückzugs der finale Mix des Albums. Diesen übergab ich 2021 an ‚meinen‘ langjährigen Masterer Florian „Flo“ Siller. Flo weiß genau, an welchen Ecken und Kanten er bei meinen Musikproduktionen zu feilen und polieren hat – und so bedurfte es nicht vieler Worte, um dem Album gemeinsam den letzten Schliff zu geben. Es fühlt sich alles so leicht an, wenn Flo am finetuning ist. Ich freue mich sehr über dieses blinde Verstehen. Danke Florian, für dieses ‚viel-mehr-als-ein-Masterer-sein‘!
>> Videokanal von Christian Kalnbach siehe https://www.youtube.com/channel/UCFhJZYJaRkbmlsibQF_-XsQ Abrufdatum 16.04.2023)
Auf den letzten Metern vor der Veröffentlichung stieß dann – wie schon öfter bei den vorigen Alben – der Filmemacher Christian Kalnbach hinzu. Und wählte sich aus den elf Albumsongs das Stück seiner Wahl. Aus „Zwei Sterne“ macht Christian ein – wie ich finde – hochpoetisches, stimmungsvolles Video: Danke Christian, dass Du Dir Deine künstlerische Freiheit nimmst in diesem Leben und dabei auch meine Musik herausgepickt hast, um sie in Deiner Ästhetik zu visualisieren!
Loslassen. Bühne frei.
Von neuen Früchten markiert einen Neuanfang in dreifacher Hinsicht: der gemeinsamen Arbeit mit Tanja an Songs, dem Wirken mit eigenen Texten sowie der Möglichkeit, selbst auf die Bühne zu gehen. Als Sänger, als E-Bassist – mit einem hoffentlich bald entstehenden Duo.
Dahin gebracht hat mich Daniel Gädicke (ebenfalls: Binoculers), der definitiv viel mehr ist als ein Basslehrer: Daniel hat aus mir, dem vorrangig im stillen Kämmerlein werkelnden Vollblutkomponisten, einen ausübenden Musiker gemacht, der seine Songs auch live performen kann und mag. Und genau das machen wir bei der Albumreleaseparty zu Von neuen Früchten. Daniel und ich spielen an diesem Abend gemeinsam und zusammen mit Tanja eine Reihe von Songs des Albums live auf der Bühne.
In meinem Leben bin ich immer wieder auf folgenden Aspekt gestoßen (worden):
„Die größte Befreiung wartet dort auf Dich, wo die Angst wohnt.“ – oder anders ausgedrückt: „Wo die Angst sitzt, da musst Du hin, um frei zu sein.“
- Einst – in meiner Jugend – war meine Musik geheim. Ich war Komponist – im Geheimen. Komponieren war uncool. Niemand durfte davon wissen. Musik war meine ultimative Freiheit in einer sich eng anfühlenden Welt.
- Schließlich verteilte ich – quasi konspirativ – Demotapes an einige wenige ausgewählte Personen.
- Zur verständlichen Überraschung und weniger verstehbaren Ablehnung meines sozialen Umfeldes habe ich systematische und historische Musikwissenschaften studiert.
- Das Betreten der Instituts-Bibliothek geriet im ersten Semester zur Mutprobe für mich – genau wie Gespräche mit der damaligen Professorengeneration.2
- Für Borchert versteckte ich mich hinter einer Musikpartitur, einer Sängerin und einem Orchester.
- Wenn ich in ein Musikfachgeschäft ging, kam ich mir wie ein Hochstapler vor und fühlte mich fehl am Platz inmitten all der augenscheinlich coolen Verkäufer:innen und selbstbewussten Musiker:innen.
- Bei Tita und Leo musste meine Kreativpartnerin Anne quasi neben mir stehen, wenn wir für unser Stück irgendwo anriefen.
- Bei der Theaterabend-Version von Borchert und Nachtgesang schickte ich Susanne und Naomi vor, dahin, wo ich nicht sein mochte – auf die Bühne.
- Schließlich traute ich mich vorsichtig aus meinem ‚Versteck‘ hervor und suchte mir Menschen, die mich dabei unterstützten, mich selbst aus dem Versteck herauszuholen. Nadja Gädicke ließ mich meiner Stimme vertrauen. Mariam Kiria ließ mich in ihrem Chor zum stimmtragenden Bass werden. Daniel Gädicke machte aus dem Hauskomponisten einen ausübenden Musiker, der lernte E-Bass zu spielen und dabei gleichzeitig musikalisch etwas vollkommen anderes mit seiner Stimme zu tun. Nadja und Daniel haben mich schon ein paar Mal auf die Bühne gestellt. Ich kann das.
„Wo wäre ich ohne Dich?“ hieß es mit 15. „Wo wäre ich ohne meine Frau?“ ist eine Frage, die ich mir zum Glück nicht stellen brauche. Sie ist: da. Alle vorgenannten (Fort-)Schritte sind, seit ich Mitte 20 bin, massiv geprägt und unterstützt durch meine Frau. Dankbarkeit durchflutet mich.
Jetzt schreibe ich einen Werkstattbericht, in dem ich meine Angst preisgebe. Sie ist nicht weg. Aber ich kann meistens mit ihr umgehen. Sie gehört zu mir, wie alle Stärken und Schwächen. Ich kann mich ihr stellen, sie stärken oder schwächen: meine Wahl. Hallo Angst, Du bist mein Wegweiser. Zeig mir wo es langgeht, ich komme Dir entgegen.
Und nasche: Von neuen Früchten.
Marc Pendzich.
[pdf des Werkstattberichtes]